Neben Gustavs Schule steht ein kleiner Kiosk, wo sich die Kinder manchmal etwas Süßes zum Naschen holen oder irgendwelchen Krimskrams kaufen.
Weil Gustav heute morgen noch ein paar Minuten Zeit hat, bis die Schule beginnt, geht er zum Kiosk hinüber.
„Ein Päckchen Sammelkarten, bitte, Frau Lingling!“
Frau Lingling, die Kioskbetreiberin, nimmt eine Päckchen Karten aus einer Box und schiebt es zu Gustav rüber. „30 Cent!“, sagt sie und seufzt. Frau Lingling seufzt oft, ohne dass Gustav bislang herausgekriegt hätte, weswegen.
Gustav hat die drei 10-Cent-Münzen schon abgezählt. Aber als er das Geld auf den Tresen legen will, rutschen ihm die Geldstücke durch die Finger und fallen zu Boden. Als er sich bückt, sie wieder aufzuheben, staunt er nicht schlecht: Die Münzen liegen nicht flach auf der Erde, sondern stehen, alle drei, aufrecht aufeinander, Kante auf Kante! Gustav hätte nicht für möglich gehalten, dass das überhaupt geht. „So ein Zufall!“, denkt er sich.
Da entfährt Frau Lingling ein spitzer Schrei. „Du Sohn des Glücks!“, kreischt sie. „Dir ist die legendäre Geldpyramide des Tschung-Tse zuteil geworden! Heute ist dein Glückstag, ehrwürdiger Jüngling! Alles, was du heute unternimmst, führt zu erhabenem Gelingen!“
Gustav wundert sich. Nicht so sehr darüber, was Frau Lingling sagt, sondern vielmehr, dass sie überhaupt so viel reden kann.
Gustav reicht die drei Münzen über den Tresen. Frau Lingling lächelt.
„Dann mal los, großer Glücksdrache!“, sagt sie und wirft das Geld in die Kasse.
Gustav ist schon einige Schritte weiter gegangen, als er hört, wie Frau Lingling ihm noch etwas zuruft. „Hallo? Der große Glücksdrache hat seine Sammelkarten vergessen!“
Auf dem Schulhof werden schon fleißig Karten getauscht. Sammelkarten tauschen ist zur Zeit der absolute Hit. Pia, die gesehen hat, wie Gustav zum Kiosk ging, fordert ihn gleich zum Kartenduell heraus. Dazu sagt man sich abwechselnd die Punkte, die die eigenen Figuren bei verschiedenen Eigenschaft besitzen. Wer die höhere Punktzahl hat, bekommt vom Gegner die Karte. Normalerweise ist das Pia, die sich verteufelt gut auskennt bei diesem Spiel. Aber heute ist alles anders.
„Seht euch das an, Leute!“, ruft Pia und schnappt nach Luft. „Gustav hat die KARTE, DIE ALLE KARTEN EINSACKT!“
Die Kinder strömen zusammen und drängeln sich um Gustav. Tatsächlich, in dem Päckchen, das er eben erst gekauft hat, war die legendäre KARTE, DIE ALLE KARTEN EINSACKT! Die Kinder heulen vor Wut und Enttäuschung. Denn wer die KARTE, DIE ALLE KARTEN EINSACKT besitzt, darf von den Mitspielern sämtliche Karten, die sie dabei haben, einfordern. Noch nie hatte auf der ganzen Welt ein Kind das Glück, diese Karte in seinem Päckchen zu finden. Viele dachten bereits, die KARTE, DIE ALLE KARTEN EINSACKT, gäbe es in Wirklichkeit gar nicht. Aber hier ist sie nun. Und sie gehört Gustav!
Und weil die Kinder ausgerechnet heute alle ihre kompletten Sammlungen dabei haben, weil sie sie in der großen Pause vergleichen wollten, türmen sich bald hohe Stapel von Sammelkarten um Gustav. Gustav weiß gar nicht, wie er seine frisch erworbenden Schätze transportieren soll.
Attila grinst schadenfroh. „Ätsch, jetzt besitzt du zwar alle unsere Karten, aber du kannst sie nicht mitnehmen! So ein Pech aber auch!“
Da wandelt plötzlich Hausmeister Göppinger mit geschlossenen Augen über den Schulhof. Ein paar Schritte vor den Kindern bleibt er stehen und öffnet die Augen. Als erstes sieht er Gustav zwischen seinen Kartenstapeln. „Du da! Ja, du mit den Karten!“, sagt er und zeigt feierlich auf Gustav. „Dich hab ich zuerst gesehen, darum bin ich heute laut Gesetzt bis zum Sonnenuntergang dein Sklave!“
„Häh?“, fragt Gustav.
Frau Meier-Greulich, seine Klassenlehrerin, die eben mit ihrer dicken Tasche durchs Schultor geeilt kommt, hat alles gesehen.
„Na, so ein Zufall! Wisst ihr nicht, was heute für ein Tag ist, Kinder?“, ruft sie und tritt neben Herrn Göppinger. „Heute ist Sankt-Domus-Tag, der höchste Feiertag, den es für Hausmeister gibt. Heute Nacht feiern alle Hausmeister dieser Erde ein Dankesfest dafür, dass ihnen so viel Macht über die Menschen, die in Häusern wohnen, verliehen wurde. Aber damit sie trotz all ihrer Macht demütig und bescheiden bleiben, müssen sie am Sankt-Domus-Tag bis zum Sonnenuntergang einem normalen Menschen als Sklave dienen. Herr Göppinger tut nur, was der geheime Geheimbund der Hausmeister von ihm verlangt!“
„Super!“, freut sich Gustav. „Dann kann er ja meine Sammelkarten tragen!“
„Selbstverständlich, Herr!“, murmelt Herr Göppinger unterwürfig, verpackt Gustavs Ausbeute in einem großen Schrankkoffer und folgt ihm ins Klassenzimmer.
Im Unterricht gefällt es Gustav heute noch besser, als sonst, denn sein Sklave putzt ihm nebenbei die Schuhe, fächelt ihm Luft zu, blättert ihm die Seiten im Buch um und kratzt ihm den Rücken. Frau Meier-Greulich ist davon etwas genervt, kann aber nichts machen: So ist das nun mal, wenn ein Schüler einen Sklaven besitzt!
In der nächsten Stunde bekommt Gustav allerdings einen Riesenschreck. Den Mathe-Test, den hatte er ganz vergessen! Nicht einmal geübt hat er zuhause! Als Frau Meier-Greulich die Aufgabenblätter verteilt, merkt Gustav, dass er keine Ahnung hat, wie er diese kniffligen Rechnungen lösen soll! Wie betäubt hockt er vor dem weißen Blatt. Das wird eine glatte Sechs, denkt er. Von wegen Glückstag! Auch Attila scheint dasselbe zu denken, denn er schaut hämisch zu Gustav rüber. Um ihn zu ärgern, zeigt er Gustav sein eigenes, voll geschriebenes Blatt. „Lass doch deinen Sklaven für dich rechnen, höhö!“, flüstert er. Gustav ist den Tränen nahe.
Doch was ist das? Ein plötzlicher Windstoß pustet das Fenster auf und ein Blatt Papier wird von irgendwoher direkt auf Gustavs Tisch geweht. Noch erstaunlicher ist, dass es ein vollständig ausgefülltes Aufgabenblatt ist. Von einem Schüler der Klasse, die im Stockwerk über ihnen ebenfalls gerade eine Mathearbeit schreibt. Mit denselben Aufgaben! Der Name des Schülers steht auch da: Bazon Bläulich, das Mathe-Genie aus der 3c! Der Windstoß muss ihm die Arbeit vom Tisch gerissen und sie zu Gustav getragen haben! Gustav kann sein Glück nicht fassen! Ein Geschenk des Himmels! Hastig streicht er den Namen Bazon Bläulich ganz dick durch und schreibt seinen eigenen Namen drüber. Perfekt! Jetzt muss er nur noch sein eigens, noch völlig leeres Aufgabenblatt verschwinden lassen, aber das ist einfach: als folgsamer Sklave verschlingt Herr Göppinger leise kauend das Beweisstück.
Attila, der alles gesehen hat, wird bleich. Er will der Lehrerin alles petzen, aber vor lauter Neid versagt ihm die Stimme: „Nggh…. Arrbgt… Gnnnhn… frxx…“, stammelt er. Und Gustav? Der gibt ganz cool sein Aufgabenblatt ab und ist sich sicher, dass er eine Eins mit vielen Sternchen bekommen wird! Ohne sich anstrengen zu müssen!
Zum ersten Mal fragt sich Gustav, ob das alles nur Zufälle sind, oder ob dieses unverschämte Glück mit Frau Linglings Prophezeiung zu tun hat.
Da klopft es an der Tür. Als Frau Meier-Greulich „Herein!“ sagt, treten vornehme Herrschaften ins Klassenzimmer.
„Gibt es in dieser Klasse einen gewissen Gustav?“, fragt ein besonders vornehm gekleideter Herr.
Gustav sagt ja, obwohl ihm die Situation etwas unheimlich erscheint. Außerdem fragt er sich, wieso die Herrschaften auf einmal vor ihm in die Knie gehen.
„Unser neuer König!“, stammeln sie. „Dieser holde Knabe ist unser neuer Monarch!“ Dann legt der besonders vornehm gekleidete Herr Gustav einen Königsmantel aus Hermelinpelzen um und setzt ihm feierlich eine goldene Krone aufs Haupt.
„Gustav, du bist der einzige Verwandte unseres verstorbenen Königs Gusto von Gustonien. Darum wirst du nun als sein Nachfolger den Thron besteigen und über das Volk der Gustonen herrschen!“
„Gibt‘s bei euch auch Salzgebäck?“, fragt Gustav vorsichtig und rückt sich die Krone zurecht. „Ich liebe Salzgebäck!“
Der vornehme Herr verbeugt sich. „Majestät erlauben mir mitzuteilen, dass Gustonien führend ist in der Welt, wenn es um Salzgebäck-Erzeugung geht!“
Frau Meier-Greulich, die als Lehrerin bekanntlich alles weiß, kann das nur bestätigen. „Gustonien ist weltweit führend in der Herstellung feiner Salzgebäcke. Dein neuer Untertan sagt die Wahrheit, Gustav!“
„Dann nehme ich den Job an!“, kräht Gustav und wirft vor lauter Freude seine Krone in die Luft.
Die Kinder und die Lehrerin brechen in lauten Jubel aus. Dass ein Mitschüler mitten im Unterricht zum König ernannt wird, kommt schließlich nicht so oft vor. Nur Attila grummelt etwas vom Ungerechtigkeit und Glückspilz und dass Gustav bestimmt noch sein blaues Wunder erleben wird.
Da stürmen Leute mit Kameras und Mikrofonen ins Klassenzimmer. Ein großer Kerl mit blonder Wuschelfrisur, den Gustav aus dem Fernsehen kennt, steckt ihm dicke Bündel Geldscheine in den Hermelinmantel. „Wir sind vom Fernsehen und kaufen die Exklusivrechte an der Berichterstattung über deine Thronbesteigung, Majestät Gustav!“, sagt er. „Falls das Geld hier nicht reichen sollte, kein Problem: Wir haben unten im Wagen noch viel, viel, viel mehr! Denn wir vom Fernsehen haben sehr, sehr, sehr, sehr, sehr…“, er kratzt sich am Hals, „sehr, sehr, sehr, sehr, sehr, sehr, sehr viel Geld!“
Gustav kann sein Glück nicht fassen. Er strahlt übers Gesicht, dass ihm fast die Mundwinkel einreissen.
„Ich lade euch alle ein nach Gustonien!“, ruft er der Klasse und seiner Lehrerin zu. „Wir feiern gemeinsam meine Thronbesteigung und ich schenke jedem einen Sack voll Diamanten!“
Dann wendet er sich an den vornehmen Herrn. „Wir haben doch so viele Diamanten, oder?“, fragt er besorgt.
„In rauen Mengen, Majestät!“, bestätigt dieser. „Wir sind noch reicher, als das Fernsehen! Eure Schatzkammern quellen über, wir wissen gar nicht, wohin mit dem ganzen Plunder!“
Alle brechen erneut in Jubel aus. Selbst Attila. Gustavs Glück findet er auf einmal doch gar nicht so übel.
Gustav lässt gleich zwanzig Luxuslimousinen anfordern, die sie alle nach Gustonien bringen sollen.
Als er in seine extra-lange Königslimousine einsteigt, fällt ihm etwas aus der Tasche. Der vornehme Herr, der Gustav die Tür aufhält, bückt sich. „Was ist denn das, Majestät?“, fragt er.
Gustav erkennt die Karte. „Ach, das ist nur die KARTE, DIE ALLE KARTEN EINSACKT! Damit hab ich den anderen Kindern ihre Karten abgeluchst, hehehe!“
Der vornehme Herr schaut kritisch. „Aber Majestät, dies ist doch nicht die KARTE, DIE ALLE KARTEN EINSACKT! Ich weiß das, denn ich bin selbst ein leidenschaftlicher Sammler. Seht doch einmal genau hin! Das ist, ganz im Gegenteil, die KARTE, DIE VON ALLEN KARTEN EINGESACKT WIRD! Die absolute Looser-Karte des Spiels! Die Karte, die wirklich auch noch gegen die letzte Lusche verliert!“
Tatsächlich! Jetzt sehen es die anderen Kinder auch. Wie konnten sie sich nur so irren?
„Betrug! Rück unsere Karten wieder raus, Majestät!“, brüllen sie.
Gustav findet das gar nicht gut. „Sklave?“, ruft er, „Sklave, bring den Schrankkoffer mit den Karten in Sicherheit!“
Doch anstatt zu gehorchen, starrt Herr Göppinger gerade angestrengt seinen Taschenkalender an. „Verflixt!“, entfährt es ihm. „Heute ist ja gar nicht Sankt-Domus-Tag! Der ist ja erst in einem Monat!“
Er wirft den Schrankkoffer auf den Boden und rennt hüpfend und singend davon: „Ich bin frei!“, jubelt er. „Ich bin frei! Ich bin frei!“
Die Kinder fallen über den Koffer her und krallen sich ihre Karten.
Da kommt ein Junge auf Gustav zu. Gustav kennt ihn, es ist Bazon Bläulich, das Mathe-Genie aus der 3c! Bazon fuchtelt mit seiner Klassenarbeit, über die Gustav seinen Namen geschrieben hat, vor Gustavs Nase herum. „Gustav? Du Betrüger! Ich habe deiner Lehrerin alles erklärt und sie hat gesagt, dass du eine Sechs mit vielen Sternchen bekommst! Geschieht dir recht, har har har!““
Gustav muss sich erst einmal setzen. Das läuft ja gerade nicht so ganz toll, denkt er. Aber Schwamm drüber: Er ist immer noch König eines reichen, Salzgebäck herstellenden, Landes. Aber von wegen:
„Katastrophe!“, ruft einer der feinen gustonischen Herrschaften, der gerade mit seinem Händi telefoniert. „Staatsstreich in Gustonien! Das Königsschloss wurde vom Volk erobert! Die Schatzkammern sind geplündert! König Gustav ist abgesetzt! Die Leute wollen jetzt mehr Demokratie wagen!“
„Was heißt denn das?“, fragt Gustav.
„Das heißt, dass du die längste Zeit König gewesen bist!“, sagt der besonders vornehme Herr, reisst Gustav den Mantel von den Schultern und nimmt ihm die krone ab.
Die Fernsehleute haben alles beobachtet.
„Was? Keine Thronbesteigung? Wenn das so ist, nehmen wir das viele, viele, viele, viele, viele, viele Geld wieder mit!“, sagt der blonde Wuschel vom Fernsehen und steckt sich Gustavs Geldscheinbündel in die eigenen Taschen.
„Sind wir jetzt nicht mehr nach Gustonien eingeladen? Kriegen wir jetzt keine Diamanten mehr?“, fragt Attila verwirrt. Gustav antwortet nicht, er sitzt nur wie betäubt auf dem geplünderten Schrankkoffer.
Die Luxuslimousinen fahren wieder ab. Einer der Fahrer hat Gustav eine saftige Rechnung überreicht. „Hier, mein Freund! Man ruft unsere teuren Luxusautos nicht einfach so zum Spaß! Dafür muss Papa ganz schön blechen, höhöhö!“
Frau Meier-Greulich schaut auf die Uhr. „Oh, schon wieder Schluss! Wie schnell doch so ein ganz normaler Schultag immer vergeht!“
Gustav schlurft rüber zum Kiosk. Jetzt braucht er erst einmal eine doppelte Holunderlimo. Frau Lingling schiebt ihm stumm sein Glas rüber.
„Hast du nicht gesagt, heute sei mein Glückstag, Frau Kioskfrau?“, sagt Gustav.
Frau Lingling lacht. Dann greift sie in die Kasse und holt drei Münzen zum Vorschein. Es sind die drei Zehner, mit denen Gustav vorhin bezahlt hat. Die drei Zehner, die senkrecht aufeinander stehen blieben und Gustavs Glückstag verkündeten.
„Wenn der ehrenwerte Grundschüler mir bitte seine Aufmerksamkeit schenken könnte?“, sagt Frau Lingling und wirft die Münzen in die Höhe. Als sie auf den Tresen klappern, werden sie wie von Geisterhand zueinander gezogen und bleiben wieder senkrecht aufeinander getürmt stehen.
„Die tun das ja andauernd!“, sagt Gustav aufgeregt. „Wie denn das?“
„Zaubertrick-Münzen!“, sagt Frau Lingling. „Sind magnetisch! Tja. alles hat eine einfache, wissenschaftliche Erklärung! Heute war gar nicht Glückstag!“
„Das hab ich gemerkt!“, seufzt Gustav.
Dann sieht er aber auch das Gute daran: Hat er nicht dafür eine tolle Geschichte erlebt? Die Eltern werden nicht schlecht staunen, wenn er ihnen heute abend alle erzählt. Und dann wird der Papa bestimmt auch die Rechnung für die Luxuslimousinen gerne bezahlen. Aus Dankbarkeit dafür, dass Gustav weiterhin bei ihnen wohnen bleibt. Statt in einem Königspalast in Gustonien. Wo liegt das eigentlich, Gustonien?